Konzert vom 17.08.1978 | Veröffentlicht zum 90. Geburtstag

Konzert vom 17.08.1978 | Veröffentlicht zum 90. Geburtstag

Franz Lehrndorfer an der Zeilhuber Orgel, Liebfrauendom München

Toccata 3:21
Fuge 6:53
Chorale in Fuga 3:21 –
Var. prima: A 2 Claviature con Pedale (Moderato) 1:13 –
Var. seconda (Andante) 1:19 –
Var. terza: Senza Pedale (Vivace) 1:41 –
Var. quarta: A Pedale Solo 1:22
Allegro 2:26
Larghetto 3:56
Allegro 2:39
Prélude 4:22
Fugue et Variation 6:51
Improvisation 8:43
Invocation 6:30
Introduktion und Fuge 7:44
Improvisation über „B-A-C-H“ 13:34

Von 1970 an leitete Franz Lehrndorfer die Münchner Domkonzerte. In ihrem Rahmen kamen Organisten aus zahlreichen Ländern in der Frauenkirche zu Wort. Für den 17. August 1978 war Jean Langlais, der blinde französische Organist und Komponist, vorgesehen; er musste wegen Erkrankung absagen. Für ihn sprang der Domorganist Prof. Franz Lehrndorfer mit einem eigenen Programm ein.

Die vorliegende CD dokumentiert das bisher unveröffentlichte Konzert im Hinblick auf den 90. Geburtstag des 2013 verstorbenen Künstlers am 10. August 2018; wir erleben ihn hier als Interpreten (Bach, Gronau, Vivaldi, Franck, Reger), als Bearbeiter und Herausgeber (Vivaldi) und als Improvisator (B-A-C-H).

Johann Sebastian Bachs (1685-1750) wohl bekanntestes Orgelwerk, Toccata und Fuge d-Moll (BWV 565), gehört stilistisch noch zu den Kompositionen der Jugendzeit. Franz Lehrndorfer spielt es als Zusammenballung improvisatorischer Elemente: mit einem stürmischen einleitenden Unisono, dem heftigen Widerspiel gebrochener Akkorde (Höhepunkt der vier Takte lang anhaltende verminderte Septimakkord, der hier zum ersten Mal in der Musikgeschichte in seiner ganzen Ausdruckskraft hervortritt!), mit den wogenden Triolen, dem mächtigen Pedalsolo und der thematisch an das Anfangsmotiv der Toccata anschließenden Fuge.

Von dem lange vergessenen Danziger Organisten Daniel Magnus Gronau (+1747) sind in jüngster Zeit vor allem die Choralvariationen für Orgel neuentdeckt und von mehreren Organisten neu eingespielt worden. Franz Lehrndorfer ist hier mit der Variation über „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ vorangegangen. Dabei mag ihn nicht nur die eigenständige Tonsprache des barocken Meisters gereizt haben, sondern auch die virtuose Spieltechnik, die Gronau den Interpreten abverlangt (eine Hand auf zwei Manualen!)

Antonio Vivaldi (1678-1741) schrieb Opern und Konzerte, darunter auch Doppelkonzerte für Violine und Orgel. Bach schätzte den italienischen Meister sehr, und im Gedächtnis der Organisten lebt Vivaldi vor allem durch die Bachschen Bearbeitungen seiner Konzerte für Orgel („Bach-Vivaldi“) fort. Franz Lehrndorfer hat das Concerto D-Dur (BWV 972) für Orgel eigenhändig bearbeitet und eingerichtet – ein frühes Beispiel der zahlreichen Bearbeitungen (Bach, Stanley, Mozart u.a.), die er folgen ließ und mit denen er den Organisten Vorlagen zum Präludieren innerhalb und außerhalb des Gottesdienstes an die Hand gab.

Das graziöse dritte Stück aus César Francks „Six Pièces“ von 1864 mit dem Titel „Prélude, Fugue et Variation“, wiegenliedartig beginnend, ist eins der populärsten des belgisch-französischen Meisters (1822-1890). Komponiert hat es Franck, nachdem er 1859 das Amt des Organisten der neuerbauten Basilika Sainte-Clotilde in Paris übernommen hatte. Da der Komponist die Satztechnik des strengen Stils wie wenige Künstler dieser Zeit beherrschte, zugleich aber die Orgel („mein Orchester!“) dem symphonischen Ausdruck und der farbigen Harmonik seiner Zeit zugänglich machte, wirkte er weit in die Zukunft, ins 20. Jahrhundert, hinein; wesentlich durch ihn blieb die französische Orgelkunst bis zur Gegenwart in kreativer Verbindung mit der allgemeinen Entwicklung der Musik.

Franz Lehrndorfer war ein bedeutender Interpret der Orgelwerke Max Regers (1873-1916), von denen er viele bei Konzerten vorgetragen und mehrere auf CDs eingespielt hat. Auch in seinem Orgelunterricht spielte Reger eine wichtige Rolle. Die 2. Sonate d-Moll op. 60, 1901 geschrieben, dreisätzig, bietet den „ganzen Reger“ in der Nussschale: mit einer Exposition, die von Anfang an auch Elemente der Durchführung enthält, einer eindringlichen rezitativischen „Invocation“, die am Schluss den Choral „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ anklingen lässt, und der Finalfuge, die einer scherzoartigen Introduktion folgt.

Bachs „musikalischer Name“, in der Tonleiter auf Sekundnähe „gespeichert“, hat unzählige Organisten – und nicht wenige Komponisten – immer wieder zu Improvisationen, zu Präludien und Fugen über B-A-C-H angeregt. Auch das Konzert Franz Lehrndorfers vom 17.08.1978 endete mit einer Improvisation über B-A-C-H. Sie zeigt alle Künste des international geschätzten und bewunderten Improvisators: toccatenartiges freies Spiel, herbe Akkordballungen und eine „Kunst der Fuge“, wie sie heute nur noch wenige zeitgenössische Organisten erreichen. Deutlich tritt uns Franz Lehrndorfer hier als Zeitgenosse, als Organist und Komponist des 20. Jahrhunderts entgegen. So mag dieses Stück ihn in unserer dankbar-bewundernden Erinnerung festhalten.

Hans Maier

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Orgelspiel als fröhliche Wissenschaft

In den fünfziger und sechziger Jahren begann man in der Musikwelt von einem jungen Organisten aus dem bayerischen Schwaben zu sprechen. Er spiele anders Orgel als die anderen, so hieß es. Bald konnte man Franz Lehrndorfer in Konzerten erleben und auf Schallplatten hören; berühmt wurden seine Improvisationen über Weihnachts- und über Kinderlieder. Das war eine neue, subtile, kühne, manchmal fast freche Kunst. Lehrndorfer nahm die bekannten Melodien her, umrahmte und umspielte sie mit pointierten und witzigen Einfällen, ließ den Cantus im raschen Laufwerk verschwinden und wieder auftauchen, ließ ihn schwelgerisch aufblühen oder kräftig im Bass daherstampfen. Er ließ die Zungen singen und tremolieren, kostete den Gefühlswert der alten Lieder aus, Pop-Effekte nicht scheuend – und er machte aus Schlussfugen, ungeachtet beträchtlicher Kunst und Virtuosität, eine einladende fröhliche Wissenschaft.

Das war neu und ungewohnt im damals eher schwerflüssigen deutschen Orgelfach. Viele verbanden ja – und verbinden heute noch – mit der Orgel die Vorstellung gravitätisch sich bewegender Klangmassen und eines permanenten Legato-Stils. Und nun eine Orgel, die ins Laufen, Tanzen, Singen und Schwirren geriet? Durfte man mit der ehrwürdigen Königin der Instrumente wirklich so umgehen?

Nun, Lehrndorfers musikalische „Attacca“ hat sich durchgesetzt – auch international. Das Improvisieren ist in den letzten Jahrzehnten in der Organistenzunft zu neuen Ehren gekommen. Für moderne Organisten ist heute längst nicht mehr allein das Literaturspiel verbindlich. Es gibt inzwischen in Europa, ja in der ganzen Welt zahlreiche Improvisationswettbewerbe, bei denen sich alljährlich junge Künstler dem Publikum vorstellen. Dem in Salzburg geborenen, in Kempten aufgewachsenen, seit langem in München lehrenden Franz Lehrndorfer ist dieser Anstoß sicher nicht allein zu danken – aber er hat frühzeitig exemplarisch vorgemacht, wie man improvisiert, und hat diese Kunst an eine große Zahl von Schülern weitergegeben.

Es wäre natürlich falsch zu meinen, der Name Lehrndorfer stehe für einen ungebundenen oder gar willkürlichen Umgang mit der Orgel. Der Meister hat das Literaturspiel, das er schon in jungen Jahren bei seinem Vater, einem Chordirektor und Wissenschaftler, erlernte, immer ernst genommen und sich im Lauf der Zeit in sorgfältigen Studien den riesigen „Thesaurus“ dieser Musik erschlossen, von den vorbachischen Meistern bis zu Bach und Mendelssohn und zur Romantik, von Reger bis zu Hindemith und zu den Zeitgenossen Olivier Messiaen, Karl Höller, Harald Genzmer, Petr Eben.

Wie er seine Improvisationen gern systematisch gliedert in Introduktion, Variation und Fuge, so tritt auch in seinen Interpretationen ein ausgeprägtes Gefühl für Proportionen, Strukturen, Abstufungen hervor. Seine Technik ist makellos – Lehrndorfer ist auch ein vorzüglicher Pianist -, sie gibt an Präzision den Meistern der Leipziger Schule nichts nach. Hinzu kommt ein ausgeprägter Sinn für Kantabilität, Agogik, Kolorit. Den Orgelsatz klar und durchsichtig zu machen und andererseits die Orgel unbefangen tönen und singen zu lassen – das sind für Lehrndorfer keine Gegensätze; es sind die zwei Seiten seiner ebenso eindringlich erschließenden wie klanglich farbigen und sinnlichen Orgelkunst.

Lehrndorfers Lebensweg hat von München, wo er 1948 bis 1951 studierte, zunächst zu den Regensburger Domspatzen geführt. Dort stand er elf Jahre lang rund um die Uhr dem tüchtigen und herrischen Domkapellmeister Theobald Schrems zur Seite – selbst seine Teilnahme am ARD-Wettbewerb 1957, wo er den Ersten Preis gewann, musste heimlich vor sich gehen! 1962 wurde Lehrndorfer an die Hochschule für Musik in München berufen, wo er von 1969 bis zu seiner Emeritierung 1993 die Abteilung für Katholische Kirchenmusik und Orgel leitete. Von 1969 bis 2002 wirkte er als Domorganist am Münchner Liebfrauendom. Für seine Erfolge als Künstler und Pädagoge erhielt er viele Auszeichnungen im In- und Ausland – so 1981 den Deutschen Schallplattenpreis für seine „Orgelmusik aus dem Münchner Dom“ und 1999 den Ehrendoktor der Päpstlichen Hochschule für Musik in Rom. Von 1998 bis 2003 war er Gastprofessor an der Katholischen Universität in Porto. Lehrndorfer ist auch als Komponist hervorgetreten – er komponierte Messen, Lied- und Chorsätze und Stücke für Orgel.

Neben seiner eigenen Orgelkunst, den vielen Konzerten im In- und Ausland hat Lehrndorfer wohl die tiefsten Spuren als Lehrer einer ganzen Generation von Organisten hinterlassen. Die Liste umfasst den gesamten deutschsprachigen Raum und reicht darüber hinaus nach Italien, Ungarn, Norwegen, Frankreich, England und Japan. Nicht weniger als 127 Schüler hat er nach dem Ausweis der Akten an der Münchner Hochschule unterrichtet.

Lehrndorfer nahm sich für den Unterricht stets viel Zeit und baute ihn langsam und systematisch auf. Gerhard Weinberger hat berichtet, wie sein Lehrer Finger- und Fußsatz, Anschlag, Artikulation und Tempo und die musikalische Gestaltung genau kontrollierte. So konnte beispielsweise die Arbeit an einer Bachschen Triosonate monatelang dauern. Den Unterricht erteilte er in mildem Ton, rücksichtsvoll und mit Humor, in der Sache aber äußerst präzise und streng. „Nicht die kleinste rhythmische Ungenauigkeit ließ er durchgehen.“

Leider spielt Franz Lehrndorfer seit 2002 nicht mehr im Münchner Dom. Die unbegreiflichen Attacken eines Kollegen haben ihn von der dortigen Orgelbank vertrieben. Glücklicherweise sitzt heute einer seiner Schüler, Hans Leitner – wie Lehrndorfer Organist und Komponist – als sein Nachfolger am Spieltisch der Jann-Orgel. […]

Franz Lehrndorfer wird an diesem Sonntag 80 Jahre alt. In seiner Bescheidenheit, im Zurücktreten hinter dem Werk vertritt er einen Typus von Künstlern, der heute seltener geworden ist. Wir gratulieren herzlich!

Hans Maier war von 1970 bis 1986 bayerischer Staatsminister für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst

Süddeutsche Zeitung vom 9./10.08.2008