Improvisationskunst

Versucht man, die Musikerpersönlichkeit Franz Lehrndorfers näher zu fassen, gelangt man alsbald zu der Feststellung, dass bei ihm verschiedenartige Gaben und Fähigkeiten zusammenkamen, die außergewöhnlich hoch entwickelt und in ein- und derselben Person vereint waren.

Da ist einmal der Interpret, der mit größtem Einfühlungsvermögen und höchstem künstlerischen Anspruch das ganze Spektrum der Orgelliteratur beherrschte und pflegte, von Werken der älteren süddeutschen Tradition bis hin zu Kompositionen der französischen Schule des 20. Jahrhunderts. Nicht wenige Kompositionen seiner Hochschulkollegen Günther Bialas, Harald Genzmer und Karl Höller hat er sogar uraufgeführt. Zahlreiche Tonträger dokumentieren die Interpretationen Lehrndorfers und legen Zeugnis ab nicht nur für die enorme Breite seines Repertoires, sondern auch für den meist intuitiv gefundenen, unmittelbaren Zugang zu Musik verschiedenster Stile und Richtungen. Hervorgehoben seien die Maßstab setzenden Aufnahmen von Musik Max Regers, der er sich besonders verbunden fühlte.

Neben, nicht nach dem Interpreten steht der Improvisator, der mit unerschöpflicher Fantasie und mit unnachahmlichem Schwung aus jedem Thema und aus jeder Orgel sozusagen das Maximum „herausholen“ konnte.

Sodann der Pädagoge, der mit großer Sensibilität mehrere Schülergenerationen erfolgreich ausgebildet und gefördert hat, zunächst in Regensburg bei den Domspatzen und dann über mehr als drei Jahrzehnte an der Hochschule für Musik in München.

Schließlich aber auch der Komponist, der neben Werken für sein eigenes Instrument eine ganze Reihe kirchenmusikalischer Kompositionen schrieb, der aber z. B. auch weltliche Liedsätze veröffentlichte.

Und nicht zu vergessen der Dirigent, der vokale und instrumentale Ensembles zu musikalischer Höchstform beflügeln konnte, auch wenn diese Fähigkeit weniger oft zum Tragen kam. Am deutlichsten tritt die künstlerische Individualität Lehrndorfers freilich in seinen Improvisationen hervor, wo er sozusagen ganz „bei sich selbst“ sein und seine eigene musikalische Sprache sprechen konnte.

Worin liegt das Faszinierende dieser Improvisationen, mit denen er viele seiner Konzerte beendete, um die Zuhörer danach begeistert zu entlassen?

Franz Lehrndorfer improvisierte vorzugsweise über Kirchenlieder, über Melodien, die dem Konzertbesucher (und dem Gottesdienstbesucher) bekannt und vertraut waren, mit denen dieser sich sozusagen identifizieren konnte. Wie nun diese Melodien im Verlauf einer Improvisation behandelt wurden – je nach musikalischem Ausdruck in verschiedenen Tonlagen, Rhythmen und Klangfarben, in überraschenden, ja frappierenden Wendungen und Harmonien – das konnte somit jedermann nachvollziehen, auch ohne die angewandten kunstvollen Variationstechniken kennen oder würdigen zu müssen. Das Entstehen von zuvor noch nie gehörter Musik mitzuverfolgen – nicht selten in atemberaubendem Tempo – und sich dabei „festhalten“ zu können am immer wieder auftretenden Cantus firmus erfordert einerseits Einfühlungsvermögen vom Zuhörer, andererseits bereitet der angenehme Wiedererkennungseffekt pures Vergnügen. Das Lied – oder allgemeiner gesagt – das Singen als elementare menschliche Ausdrucksweise war somit die eine Basis für Lehrndorfers Improvisationen, bei ihm sang die Orgel. Das Beherrschen und spontane Abrufen verschiedenster virtuoser Improvisationstechniken – die er stets für erlernbar hielt – war die andere.

Letztlich verfügte Franz Lehrndorfer damit über die seltene Gabe, Gemeinschaft zwischen Organist und Zuhörern herzustellen, eine Verbindung zwischen beiden zu schaffen, bei der der Funke vom Spieler auf die Zuhörer übersprang.

Klemens Schnorr