Orgelimprovisationen über
“Lob und Dank, Vertrauen und Bitte”
1978 – 1985
Nichts hätte für den Bach- und Reger-Interpreten Franz Lehrndorfer vermutlich näher gelegen, als sich sein Improvisations-Vokabular bei den hoch geschätzten Meistern zu holen. Doch wo sich andere Improvisatoren allzu gern in sogenannte „Stilkopien“ flüchten – teils mit durchaus staunenswerten Resultaten –, da blieb Lehrndorfer stets auf der Suche nach eigenen Ausdrucksmitteln. Davon gibt auch die vorliegende CD ein beredtes Zeugnis. Selbst ein so oft gehörtes und gesungenes „Lobe den Herren“ wartet beim Improvisator Franz Lehrdorfer mit Überraschungen auf. Ja er beginnt fast in Verweigerungshaltung mit einer übermütig aus den Fingern sprudelnden Spielfigur, die für die ersten anderthalb Minuten so gar nichts ahnen lässt vom eigentlichen Sujet. Zwischendurch plötzlich ein „Kommet zuhauf!“, gefolgt von fast kindlich verspielten Barocksequenzen – bis dann endlich in der Mittelstimme des tänzerisch-dreistimmigen Satzes die ersehnte Melodie erstmals in Erscheinung tritt. Die heitere Grundstimmung bleibt erhalten und dreht sich walzerselig durch Lehrndorfers Klangeskapaden, in denen auch der Gebrauch des Zimbelsterns nicht fehlen darf. Wer hätte das gedacht an diesem 235. Todestag Johann Sebastian Bachs und am Ende eines Konzerts, das immerhin mit Bachs majestätisch-schwergewichtigem Präludium und Fuge e-Moll BWV 548 begann?!
Auch die zweite Aufnahme dieser CD, entstanden zwei Jahre früher im Münchner Liebfrauendom, fällt auf den gleichen Bach-Gedenktag. Diesmal stehen Bachs grandiose Partita „Sei gegrüßet, Jesu gütig“ und Regers „Wachet auf“-Phantasie auf dem Programm. Und Lehrndorfer? Er kontert solche Tiefgründigkeit und Ernsthaftigkeit in improvisatorischer Unbekümmertheit, beginnend, wie so oft, mit verspieltem Figurenwerk und melodiösen Einsprengseln. Im Mittelteil dann werden verschiedene choralhafte Harmonisierungen erprobt, gelegentlich scheint Reger dabei grübelnd um die Ecke zu winken. Am Ende jedoch läuft alles auf eine toccatenartige Gigue im vorwärts drängenden, tänzerischen Gestus hinaus; mit Sequenzierungen, die nach bester Lehrndorfer-Manier abgeleitet sind vom Material der gegebenen Melodie.
Und selbst ein von Haus aus vergleichsweise simpel geartetes Lied wie das modale „Lasst uns loben, Brüder, loben“, aufgenommen in der Düsseldorfer St. Franziskus-Xaverius-Kirche, setzt unvermutete Einfälle beim Improvisator frei – und wird am Ende zur zeitlich ausgdehntesten Improvisation dieser CD! Nach einer modern harmonisierten „Aria“ (mit ziemlich verstimmtem Zungenregister) folgen zunächst ein forsches Vivace mit allerhand dynamischen Finessen und dann gleich zwei Fugenanläufe.
Auch in der folgenden, vierten Improvisation über „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ zeigt Lehrndorfer nicht nur die strukturelle Seite des Extemporierens, sondern auch sein Gespür für Raum und Instrument. An der romantisch disponierten, fünfmanualigen Marienorgel der Altöttinger St.-Anna-Basilika hebt das Ganze fast in Mysterioso-Stimmung alla Regers „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ an – und bleibt auch im weiteren Verlauf bemerkenswert „untypisch“ für die Ohren geübter Lehrndorfer-Bewunderer.
Mit der fünften Improvisation schließlich über „Kyrie eleison“ kehrt Lehrndorfer auf den Boden gregorianischer Kirchentradition zurück; am Ende eines Konzerts wohlgemerkt, das mit Bachs „Fantasie und Fuge g-Moll“ BWV 542 begonnen und über Mozart und Marcel Dupré zu Mendelssohns sogenannter „Vaterunser“-Sonate op.65/6 geführt hatte. Gleichzeitig gastiert Lehrndorfer mit diesem Konzert an jener Orgel der Kemptener St.-Lorenz-Basilika, an der er einst – unter der väterlichen Obhut – mit dem Orgelspiel begonnen hatte.
Matthias Keller