Max Reger

München 1966 | Max Reger

an der Steinmeyer-Orgel in der Hochschule für Musik und Theater München

 

-1- Phantasie (8:54min)
-2- Fuge (10min)
-3- Phantasie (12:53min)
-4- Fuge (8:59min)
-5- Phantasie (14min)
-6- Fuge (4:28min)

Die hier vorliegenden Live-Mitschnitte sind am 27. und 30. April 1966 an der Steinmeyer-Orgel des Großen Konzertsaals der Münchner Musikhochschule entstanden. Es sind besonders wertvolle Tondokumente, die uns heute – mehr als 50 Jahre danach – eindringlich vermitteln, welch bedeutender und bahnbrechender Reger-Interpret Franz Lehrndorfer schon zu einer Zeit war, in der dessen Orgelwerke eher selten auf den Konzertprogrammen zu finden waren. Dies gilt vor allem für die ob ihrer immensen Schwierigkeiten gefürchtete, damals fast vergessene “Symphonische Phantasie und Fuge” op. 57, die Lehrndorfer damit wieder zur Diskussion stellte und die in der Folge über seine Schüler eine bis heute anhaltende Renaissance erlebte.
Unmittelbarer Anlass zu den beiden Veranstaltungen war die Verleihung der Staatlichen Förderungspreise am 27. April 1966 (Franz Lehrndorfer hatte ihn als erster schon 1965 erhalten) und das Eröffnungskonzert der “Süddeutschen Max-Reger-Tage” am 30. April 1966. Es war eine einmalige Gelegenheit für den damals 38 Jahre jungen Orgelprofessor, kurz hintereinander drei der größten und bedeutendsten Orgelwerke Regers für ein zahlreiches, kundiges und begeistertes Publikum zu spielen.

Die Phantasie und Fuge über B-A-C-H op. 46 wurde im Februar 1900 in Weiden komponiert und im Sommer desselben Jahres von Regers Freund Karl Straube im Willibrordi-Dom von Wesel uraufgeführt. Gewidmet ist das monumentale Werk dem damals in München lehrenden konservativen Orgelprofessor “Geheimrath Dr. Joseph von Rheinberger in besonderer Verehrung”, der aber zu Reger gesagt haben soll “Ich glaube nicht, dass Menschenfinger Ihr Werk spielen und Menschenohren es ertragen können”. Wahrscheinlich nur eine gut erfundene Anekdote, zeigt es doch, wie neuartig und kühn Regers Tonsprache auch auf seine wohlmeinenden Kollegen und Mitstreiter gewirkt hat. Die vier B-A-C-H-Töne, die vorher schon u.a. Robert Schumann und Franz Liszt zur Grundlage bedeutender Orgelkompositionen gemacht haben, werden in Regers Phantasie zu einem regelrechten Leitmotiv, es gibt kaum einen Takt, in dem sie nicht in vielerlei Umformungen und Umspielungen gegenwärtig sind.
Besonders eindrucksvoll sind die aufsteigenden zehnstimmigen Akkordblöcke des Beginns, dessen dreifacher Anlauf am Schluss der Fuge wiederkehrt und damit beide Teile zu einer Einheit verbindet. Die Vorschrift “sempre quasi improvisazione” zeigt, dass der Interpret sich Freiheiten bei der Tempowahl, der Agogik und bei den vielen accelerandi und ritardandi leisten kann und soll. Trotzdem muss über dem Ganzen ein großer Spannungsbogen liegen, um die musikalische Einheit nicht zu gefährden, keine leichte Aufgabe! Während die beiden ersten Steigerungsblöcke der Phantasie jeweils ins pianissimo zurückkehren und so dem Thema auch eine mystische Dimension verleihen, gipfelt der dritte in technisch äußerst anspruchsvollen Läufen beider Hände. Erst im vorletzten Takt der Phantasie bringt Reger auf dem Buchstaben C des Themas die Aufhellung nach C-Dur, ein einfacher, aber genialer und unglaublich wirkungsvoller Kunstgriff des gewieften Harmonikers.
War die Phantasie sehr frei angelegt und formal nur mühsam gebändigt, überrascht die Fuge mit einem klaren und leicht nachvollziehbaren Aufbau: Es ist eine klassische Doppelfuge mit ruhigem erstem und bewegtem zweitem Thema, anschließender Kombination beider Themen und kurzer Schlusscoda, die, wie bereits erwähnt, auf die Anfangstakte der Phantasie zurückgreift. Die Ruhe des Beginns im vierfachen pianissimo wirkt nach den Eruptionen der Phantasie umso eindringlicher und zeigt, wie planvoll und wirkungssicher Reger dieses singuläre Werk angelegt hat, das nach seiner Uraufführung einen raschen Siegeszug in aller Welt antrat und bis heute sein meistgespieltes großes Orgelwerk ist.

Für die Anfang 1901 entstandene Symphonische Phantasie und Fuge op. 57 gilt dies nicht, das Werk war selbst im Reger-Jubiläumsjahr 2016 nicht eben oft zu hören. Reger geht hier ohne Rücksicht auf seine Zuhörer bis an die Grenzen der Tonalität und des technisch Möglichen. Der nicht auf Reger zurückgehende Beiname “Inferno-Phantasie” knüpft an seine Äußerung in einem Brief an den Widmungsträger Gustav Beckmann an, wo es heißt: “Opus 57 ist angeregt durch Dantes Inferno! Das dürfte Ihnen wohl alles Wissenswerte sagen; Opus 57 ist wohl das schwierigste meiner bisherigen Orgelwerke. Mehr kann ich Ihnen darüber nicht sagen, da es mir widerstrebt, Programme zu meinen Sachen zu liefern…”. In der Tat lässt einen die brutale Dissonanz des ersten Akkords erschreckt zusammenfahren und an das Inferno aus Dantes “Göttlicher Komödie” denken, wo eine Reise durch die drei Reiche der jenseitigen Welt geschildert wird: 1. Inferno – Hölle, 2. Purgatorio – Fegefeuer, 3. Paradiso – Himmlisches Paradies. Regers hier besonders zukunftsweisende Tonsprache wechselt zwischen Aufschrei, Verzweiflung und – in den beiden langsamen Teilen – Ruhe und Verklärung. Karl Straube interpretiert die acht chromatisch nach unten absteigenden Akkorde am Ende des zweiten Adagios als “das Entrücken der Verklärten, das der Verworfene mit ansehen muss”, bevor dann erneut das Schreckensmotiv des Beginns mit aller Gewalt hereinbricht.
Die anschließende Doppelfuge ist zwar ebenfalls von geradezu monumentalen Ausmaßen, doch insgesamt leichter überschaubar und in vier klar voneinander abgesetzte Teile gegliedert. Nach der Analyse von Heinz Wunderlich, der das Werk noch bei Karl Straube studiert hat, gleicht der Ablauf dem Schema einer viersätzigen klassischen Symphonie, dabei entspricht
– dem 1. Satz, Kopfsatz: die Durchführung des 1. Themas (Allegro),
– dem 2., langsamen Satz: die Durchführung des 2. Themas (Un poco meno mosso),
– dem 3. Satz, Scherzo: ein Abschnitt mit Motivteilen der beiden vorausgehenden Themen (Tempo primo – Allegro brillante),
– dem 4. Satz, Finale: die Verbindung beider Themen mit monumentaler Schlusssteigerung.
Auch wenn es kaum möglich ist, beim erstmaligen Hören diesen komplexen formalen Aufbau genau zu verfolgen, spürt der Zuhörer doch die elementare Kraft dieses Ausnahmewerks, das uns wie kein anderes von Max Reger in seelische Abgründe blicken lässt und doch am Ende der Fuge – unter Einsatz aller Kräfte – positiv, ja vielleicht sogar triumphierend endet.

Die Phantasie über den Choral Wie schön leucht’t uns der Morgenstern op. 40/1 entstand 1899 und wurde ebenfalls von Karl Straube uraufgeführt. Es ist die dritte von sieben großen Choralphantasien, die Reger in nur knapp drei Jahren hintereinander schuf und ein besonders instruktives Beispiel für seine subtile Kunst der Wort-Ton-Ausdeutung. In kaum einem anderen Orgelwerk wechselt er so häufig Tempo, Dynamik und die verschiedensten Ausdrucksebenen. So beginnt die Phantasie in düsterem es-Moll, dynamisch schroff abwechselnd zwischen dem vollen Werk und den zartesten Farben des Instruments. Reger wollte wohl vor dem Licht des Morgensterns, der symbolisch für Christus, den Bräutigam steht, erst einmal Chaos und Finsternis darstellen. Die 1. Strophe, eine Tenor-Durchführung, in der der Choral von ruhigen Achtel- und Sechzehntel-Bewegungen umspielt wird, geht direkt über in die 2. Strophe mit sich verdichtenden Triolenläufen (“Ei meine Perl, du werte Kron”). Musikalischer Höhepunkt ist die ausdrucksvolle Umspielung des cantus firmus in der 3. Strophe („Geuß sehr tief in mein Herz hinein”). Hier hat Reger auf Anregung von Straube eine relativ einfach gehaltene erste Version (Straube spricht sogar von “einer äußerst nichtssagenden, dreistimmigen Harmoniefolge”) durch ein tief empfundenes “Adagio con espressione” ersetzt, ganz nach dem Vorbild der kolorierten Choräle von J. S. Bach, den Reger ja so sehr verehrt hat. In der 4. Strophe (“Von Gott kommt mir ein Freudenschein”) wechselt die Melodie ins Pedal, auch hier wieder vielfältig differenziert, wenn z. B. an der Stelle “er ist mein Schatz, ich bin sein Braut” die Bewegung innehält und plötzlich wieder ins vierfache pianissimo zurückgeht.
Die abschließende Fuge entwickelt sich aus einem unscheinbaren Thema zunächst ganz nach den Regeln und Gesetzen des Kontrapunkts, bis mit der Hinzunahme der 5. Strophe des Chorals im Pedal („Zwingt die Saiten zu süßem Klang und lasst den hohen Lobgesang ganz freudenreich erschallen…“) eine gewaltige Steigerung einsetzt und das Werk mit virtuosen Trillerketten und vollgriffigen Akkorden wirkungsvoll abschließt.

Edgar Krapp