Heiteres aus Konzerten

Orgelimprovisationen

“Heiteres aus Konzerten”

1983 – 2004

Programmheft Thema Disposition über die Orgel

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Programmheft Thema I Thema II Disposition über die Orgel

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"Heiteres aus Konzerten" ist der BR-KLASSIK CD-Tipp vom 13.12.2017

 

Franz Lehrndorfer und seine heitere Improvisationskunst

Psyches iatreion – so lautet das Motto, das in altgriechischen Lettern über dem Eingang der berühmten Bibliothek von St. Gallen steht: Heilmittel für die Seele. Wer jemals Zeuge der Improvisationskunst von Franz Lehrndorfer war, hatte bei seiner Musik eine ähnliche Empfindung. Was fasziniert bei diesem Können des Organisten? Der Einfallsreichtum im überraschenden Harmonisieren, der bisweilen an Reger erinnert, der Klangsinn mit einem außergewöhnlichen Farbenspektrum der Register (viele wundern sich, dass Orgeln so klingen können), die scheinbar selbstverständliche leichte Art des Spiels, gepaart mit staunenswerter Technik, das Gespür für die innere Architektur der Themen, die Fähigkeit, damit das Publikum in seinen Bann zu ziehen und eine Brücke zu schlagen zu den Hörenden – insgesamt ein humaner Ton der Heiterkeit, der dieser CD ihren Namen gibt. Heiterkeit nicht nur als Sinn für Humor, der ein spontanes Lächeln entfacht, sondern auch als Grundstimmung einer positiven Lebenshaltung, der eine Ästhetik des Hässlichen fremd ist.

Franz Lehrndorfer war es gewohnt, im kirchlichen Raum über religiöse Themen zu improvisieren, in der Regel als Abschluss bei Konzerten. Genauso souverän und einfühlsam überzeugt er auf dieser CD mit dem Volkslieder-Ton. Zu Beginn erklingt ein kurzer Ausschnitt vom Internationalen Orgelfestival Hamburg 1983, das unter dem Titel „Grenzüberschreitungen“ ganz der Improvisation über gegebene Themen gewidmet war. Lehrndorfer spielte an der Konzertorgel des „Michel“ im Wechsel mit dem Titularorganisten von Notre Dame in Paris, Pierre Cocherau, einem führenden Vertreter der französischen Orgelschule, an der Hauptorgel. „Joli tambour“ erzählt von einem jungen Trompeter, der „fröhlich aus dem Krieg zurückkehrt“, sich in eine Königstochter verliebt, aber endlich doch weiterzieht in die Ferne. Lehrndorfer greift – ein typisches Beispiel für sein spontanes Erfassen von Strukturen – das punktierte Motiv zu Beginn des Liedes auf, das sich wie ein roter Faden durch die gesamte Improvisation zieht, fanfarenartig an das Trompetenthema anknüpfend, beginnend im Pedal. Abwechselnd schieben sich Intermezzi ein, die als Kontrapunkt zur Dominanz des Themas wirken.

Die beiden folgenden Stücke wurden 1992 in der Musikhochschule München aufgenommen. Franz Lehrndorfer war 1991 mit dem Kulturpreis der Stadt Germering ausgezeichnet worden und hatte als Dank für diese Ehrung ein Konzert an der Orgel im Großen Saal der Hochschule zugesagt, wo er viele Jahre als Professor unterrichtete. Nach der Darbietung von Orgelliteratur folgten Zugaben, deren Themen vom Publikum gestellt wurden. „Muß i denn zum Städtele hinaus“ ist wie eine Vorausahnung auf die Emeritierung 1993. Eine feine Melancholie spricht aus dem Moll-Teil, die sich in der sprichwörtlichen Lehrndorfer-Fuge wieder auflöst. Ich konnte mich einmal selbst davon überzeugen, wie sorgfältig Lehrndorfer seine Themen analysierte, sie sozusagen in ihre musikalischen Atome zerlegte und zu einem Klanggebäude zusammenfügte. Diese Methode gibt seinen Fugen – in den Improvisationen auch ohne schriftliche Unterlagen – im klassischen Aufbau bis hin

zum Orgelpunkt eine gedankliche Klarheit, ohne jemals konstruiert zu wirken. Am Ende dieser Improvisation wird ein „Hinaus in die Ferne“ hörbar, mit einem heiteren Ausflug in die Natur, wenn der Kuckuck in den Saal hinein ruft.

„Solang der Alte Peter“ und „Schlaf, Kindlein, schlaf“ wurden im gleichen Konzert dargeboten. Lehrndorfer reiht wellenartig Steigerung und Entspannung aneinander, ähnlich dem Herzschlag in Diastole und Systole. Besonders apart wieder eine Moll-Assonanz und die Farbigkeit der Register. Nie wird es eintönig. Ganz zurückgenommen und zart das Schlaf-Wiegenlied, das er am Ende mit dem Alten-Peter-Motiv verbindet.

Als kurze Zugabe zu einem Konzert im Münchner Dom 1994, dessen Orgeln nach Lehrndorfers Vorstellungen entstanden sind, wählte er „Der Mond ist aufgegangen“. Das Lied wird in einer besonderen Harmonisierung zitiert, das Glockenspiel erzeugt eine anrührende Stimmung, die die Hörer mit einer dunklen „Nacht-Coda“ entlässt.

Die folgenden vier Teile hat Lehrndorfer an der Jann-Orgel im Joseph-Keilberth-Saal der Bamberger Konzerthalle zehn Jahre vorher musiziert. In den Improvisationen über Volks- und Kinderlieder treten Grundelemente Lehrndorfscher Kunst deutlich hervor. Das „Männlein steht im Walde“ ist eingebettet in eine idyllische Waldszene, das Thema wird umspielt wie von einem Windhauch und ist im Pedal „verwurzelt“. Für den Hörer bedeutet es eine besondere Entdeckerfreude, das Thema aus dem Geflecht der Harmonien herauszufiltern. Nach einer kurzen Moll-Verschattung wird Heiterkeit wieder zum Interpretationsduktus.

Der altrömische Dichter Horaz forderte vor 2000 Jahren in seiner Poetik, dass Dichtung wie eine Malerei sein soll. Das trifft auch auf die musikalische Dichtung Lehrndorfers zu. Man sieht die schlafenden Blümelein förmlich vor sich, wie sie erwachen und sich im 6/8-Rhythmus im Winde wiegen. In dieser „Ton-Kulisse“ blüht in der Tenorlage ein Zungenregister auf, das das Thema „vorsingt“. Lehrndorfer schließt mit einer Coda im 3er-Takt und leitet dann unmerklich und organisch zum Frankenlied über. In der Introduktion wechselt der Stimmungscharakter mit zunehmender akkordlicher Klangfülle hin zu einem „Drehorgel-Rhythmus“. Mit dem wörtlichen Zitat des Themas im Glanz der spanischen Trompeten findet die Improvisation ihren Höhepunkt.

In das bekannte Kinderlied „Hänschen klein“ – wieder eine Zugabewird mit Tonleiter-Skalen eingeleitet, die auf kindlichen Übermut und die Entwicklungsstufen hinweisen. Das Zerlegen des Motivs in Glockenspieldreiklänge, Arpeggio- und Trillerfolgen, ein Moll-Teil und die obligate Fuge, die aus dem Anfangsmotiv gebaut ist und ausklingt im Pizzicato-Pedal – all das sind typische Merkmale des Lehrndorfer-Stils.

Zur Einweihung der Klais-Orgel in St. Peter zu München 2003 habe ich Professor Lehrndorfer gebeten, über die dortige Lokal-Hymne „Solang der Alte Peter“ zu improvisieren. Die Kirche war 1945 eine Kriegsruine, bis auf die Außenmauern zerbombt, Sprenglöcher waren bereits gebohrt. Der Widerstand der Münchner verhinderte die endgültige Zerstörung im Zusammenwirken mit dem Bayerischen Rundfunk, der den Anfang des alten Münchner Lieds als Sendezeichen wählte, so lange um die Schluss-Terz verkürzt, bis der Wiederaufbau vollendet war. Insofern ist dieses Lied auch ein zeitgeschichtliches Dokument. Die CD gibt die Gelegenheit, Lehrndorfers Fassung von 2003 mit der von 1992 zu vergleichen. Dabei wird unschwer die zunehmende Freiheit des Künstlers im Umgang mit dem Thema herauszuhören sein. Die Introduktion taucht ein in einen dunklen „Urgrund“ (wie ein Nachklang des Kriegstraumas), das Motiv entfaltet sich wie suchend, kreisend, eingebettet in Figuren und Vorhalte. Die „Gemütlichkeit“-Sequenz des Liedes wird zum Bauplan der Fuge. In steigernder Akkordfülle strahlt schließlich noch einmal das Thema auf, grundiert mit kunstvollen Pedaldurchgängen.

Kürzlich meinte ein renommierter Zeitungskritiker, die Kunst der Improvisation habe sich überholt. Wer die Improvisationen 1von Franz Lehrndorfer gehört hat oder sie auf den CDs dieser Reihe erlebt, findet diese These glänzend widerlegt. Frau Lehrndorfer, der Witwe des 2013 verstorbenen Interpreten, ist sehr zu danken, dass sie das singuläre Charisma ihres Mannes der Nachwelt erhält. Wer sich darauf einlässt, kann, auf die Musik übertragen, nachvollziehen, was ein Abt von Steingaden im 18. Jahrhundert über seine Wieskirche schrieb: „Hier wohnt das Glück, hier kommt das Herz zur Ruhe“. Für Lehrndorfers Improvisationskunst gilt das nicht minder.

Berndt Jäger