Orgelimprovisationen über Marienlieder
Die Verehrung der Jungfrau Maria in Marienliedern hat im vorwiegend katholischen Bayern eine lange Tradition. Im Herzen Münchens steht am Marienplatz die „Patrona Bavariae“, die als Schutzheilige Bayerns verehrt wird, und der Dom gleich nebenan, geweiht „Zu Unserer Lieben Frau“, an dem Franz Lehrndorfer jahrzehntelang wirkte.
Eines der schönsten Marienlieder ist „Wunderschön prächtige“, das im Münchner Eigenteil des Gotteslobs auch unter dem 1966 von Max Eham verfassten Text „Gruß dir, du Heilige“ abgedruckt ist. Drei umfangreiche Improvisationen über dieses Lied bilden den Rahmen dieser CD. Obwohl allen drei Improvisationen nahezu dasselbe Thema zugrunde liegt, versteht es Lehrndorfer, jedes Mal ein ganz anderes Opus entstehen zu lassen. Überhaupt ist die Vorliebe Lehrndorfers, über ein cantus firmus-gebundenes Thema zu improvisieren – und nicht über ein abstraktes, freies –, ein unschätzbarer Gewinn für den Zuhörer: Dieser kann sich an einem (meist bekannten) cantus firmus gut orientieren und somit bei aller kontrapunktischen und harmonischen Raffinesse akustisch den „roten Faden“ nicht verlieren.
In der ersten Improvisation bilden die Anfangstakte des Liedes das thematische Material des ganzen ersten Teils, einer Art Fantasie. Nicht zu überhören ist dabei ein Zitat des „Salve regina“. Im zweiten Teil, einem barocken Trio, kommt das Glockenspiel in der cantus firmus-Stimme zum Einsatz, während in der folgenden virtuosen Toccata der cantus firmus im Pedal erklingt. Ein hübscher, menuettartiger Satz mit dem Carillon leitet über zur Fuge, deren Thema Lehrndorfer aus der vorletzten Choralzeile nimmt. Den Abschluss bildet der Choral in einem über Reger hinausgehenden, harmonisch satten Satz.
Aus Streicherklängen, die verschiedene Choralzeilen des dorischen Liedes „Maria, Himmelskönigin“ andeuten, entwickelt Franz Lehrndorfer die erste Durchführung des Liedes mit dem cantus firmus im Tenor, registriert mit einer Zungenstimme. Die folgende virtuose Toccata, in der er vor allem das Repetitionsmotiv des Liedanfangs verarbeitet, führt den cantus fimus im Pedal durch. Im darauffolgenden Teil wird der cantus firmus, gespielt mit einer Sesquialtera, in Sopranlage koloriert. Den Abschluss bildet wieder eine vom Duktus her sehr spielerisch angelegte Fuge mit anschließendem Schlusschoral. Leider ist dieses Lied nicht mehr im neuen Gotteslob enthalten.
Auch die zweite Improvisation über die melodisch etwas unterschiedliche Liedversion von „Wunderschön prächtige“, mit dem Text „Gruß dir, du Heilige“,beginnt in der Art einer Fantasie mit dem thematischen Material aus dem Anfang des Liedes. Die Mitte bildet nun ein Satz mit koloriertem cantus firmus, gespielt mit der „Voce umana“. Obwohl das Thema der Fuge wiederum der vorletzten Choralzeile entnommen ist, entsteht ein ganz anderer polyphoner Komplex. Dabei sind bei Lehrndorfer die Variationen nie partitenmäßig aneinandergereiht, sondern durch subtile Übergänge verbunden, wobei spannend ist zu beobachten, was in diesen Überleitungstakten geschieht: Zuerst entsteht die Idee für eine neue Variation, dann wird diese Idee in eine neue Registrierung umgesetzt, oft auch verbunden mit Modulation in eine andere Tonart. Aus dieser, der Improvisation geschuldeten Notwendigkeit gestaltet Lehrndorfer Brücken zwischen den verschiedenen Stimmungen, bleibt der innere Zusammenhang erhalten und entsteht über der ganzen Improvisation ein ungemeiner Spannungsbogen.
Eine der sicher großartigsten Improvisationen Lehrndorfers ist die 1998 im Rahmen der Münchner Domkonzerte entstandene Improvisation über das Marienlied „Gegrüßet seist du, Königin“. Leise, sphärenartige Klänge, in denen das Auftaktmotiv des Liedes verarbeitet wird, bereiten einen stimmungsvollen Klangteppich. In einer gewaltigen Steigerung mit virtuosen Partien und Orgelpunkten im Pedal entwickelt sich eine Toccata, wobei das auftaktige Anfangsmotiv immer präsent bleibt. In der folgenden decrescendo-Überleitung wird aus dem ursprünglichen Motiv ein neues entwickelt, das den Kontrapunkt bildet zum cantus firmus im Tenor, wo wieder das Glockenspiel zum Einsatz kommt. Ein Fanfarenmotiv und Echopartien kennzeichnen die folgende Toccata, in der auch das „Salve, salve“-Zitat der letzten Choralzeile erklingt. Eine leise Überleitung (mit Streichern und Carillon) bereitet die abschließende Fuge vor, die sich thematisch aus dem „Salve, salve, salve Regina“-Motiv entwickelt und mit einem maestoso-Choral abschließt. Ein wahrhaft gewaltiger Abschluss eines Domkonzerts!
In der dritten Improvisation über „Wunderschön prächtige“ kommen Lehrndorfers „Vorlieben“ besonders zur Geltung: Flötenklänge (aus denen sich hier der Anfang entwickelt), Zungenstimmen, Aliquotregistrierungen mit Tremulanten, Einsatz von barocken „Spielereien“ (Glockenspiel), Sätze im 6/8-Takt, farbige Harmonik, dazu sehr virtuose Partien (hier mit Echowirkungen auf der Chororgel) und eine abschließende Fuge, die dieses Mal das B-A-C-H-Motiv zitiert und, wie Reger am Schluss seiner Choralfantasien, das Fugenthema mit dem Choralthema kombiniert.
Dem großen Beifall nach dieser Improvisation am Schluss des Domkonzerts im August 2004 verdanken wir ein wahres Kleinod: Eine kurze Improvisation über das Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“ von Matthias Claudius als Zugabe. Über dem stimmungsvollen Satz entfaltet Lehrndorfer eine frei erfundene Flötenkantilene und beschließt das Konzert mit vier Glockenschlägen.
Gerhard Weinberger