Das Ende einer Ära
Der Organist Franz Lehrndorfer als produzierender
und reproduzierender Künstler
Durch Franz Lehrndorfer erlebten Orgelkonzerte eine Renaissance: mit intuitivem Spiel und atemberaubenden Improvisationen füllte er die Säle wie kaum ein anderer Organist, etablierte neue Konzertreihen und versetzte das Publikum regelmäßig ins Staunen. Nach seinem Tod im Januar 2013 durchstöberte seine Witwe Inge Lehrndorfer die Archive, und begann, einige besondere Schätze zu heben und zur Veröffentlichung auf CD vorzubereiten. Durch die daraus resultierenden, insgesamt vierzehn Tonträger erhalten wir einen tiefen Einblick in das umfangreiche und einzigartige Schaffen Franz Lehrndorfers. Seine Frau kündigte nun an, mit den frisch erschienenen Vol. 13, Orgelimprovisationen über Marienlieder (EAN: 0 736724 487499), und Vol. 14, Eröffnungskonzert auf der neuen Münchner Domorgel 1994 (EAN: 0 736724 487482), die CD-Reihe zu beenden und somit der Ära Lehrndorfer einen würdigen Abschluss zu bereiten.
Die veröffentlichten Aufnahmen umfassen Konzertmitschnitte aus fünf Jahrzehnten von den 1960er-Jahren bis in die 2000er, insbesondere deren gefeierte Finalnummern: Orgelimprovisationen über bekannte Kirchenmelodien. Elf der CDs widmen sich dieser im Moment entstandenen Musik, zwei dokumentieren besondere Konzerte und eine ist dem Werk Max Regers verschrieben, den Lehrndorfer schon früh zu schätzen lernte.
Die vorliegenden letzten beiden CDs der Reihe beinhalten ausschließlich Aufnahmen aus der Bayerischen Landeshauptstadt München, wo Franz Lehrndorfer 1952 seine Ausbildung mit dem Meisterklassendiplom im Fach Orgel abschloss und von 1969 bis 2002 als Organist am Liebfrauendom wirkte. Auf der einen CD hören wir das Eröffnungskonzert der neuen Domorgel vom 10. April 1994. Lehrndorfer weihte das vom Orgelbau Georg Jann / Allkofen konstruierte Instrument mit einem Programm ein, das von Lully, Frescobaldi, Clérambault und Bach über Liszt und Reger bis zu Messiaen reichte und beendete das Konzert wie üblich mit einer groß angelegten Improvisation, hier über „Sagt an, wer ist doch diese“. Die zweite CD wurde auf dem gleichen Instrument aufgenommen (nur ein Titel stammt von der Orgel Sankt Bonifaz) und beinhaltet Improvisationen über Marienlieder. Bemerkenswert hierbei ist, dass Lehrndorfer drei Mal das fast gleiche Lied als Ausgangspunkt nutzt und doch drei gänzlich verschiedene Stücke daraus hervorgehen.
Als reproduzierender Künstler sticht vor allem Franz Lehrndorfers Gespür hervor, jedes Musikstück individuell zu betrachten und ihm die innewohnenden Charakteristika zu entlocken. Dabei nimmt er sich bewusst Freiheiten und folgt nicht blind dem Notentext, stellt sich aber vielleicht eben dadurch in den Dienst der Musik und bringt die Substanz der jeweiligen Werke ans Licht. Die Natürlichkeit, in der dies geschieht, steht maßgeblich für Lehrndorfers unbefangene und erspürende Herangehensweise an Musik aller Epochen. Es beeindruckt die Gabe des sich-Zuhörens und Abwägens der Akustik, die im Münchner Frauendom mit ewigem Nachhall besonders kompliziert erscheint: Dennoch fürchtet sich Franz Lehrndorfer nicht vor teils vollen Registrierungen auch in der Barockmusik und gleicht diese mit geschickten Zäsuren und subtilen Rubati aus. So entfaltet sich ein vielschichtiger Klang, der dennoch transparent bleibt. Bei Liszt spielt Lehrndorfer gleichermaßen mit der klanglichen Undurchdringbarkeit mancher Passagen.
Die Improvisationskunst gilt als Markenzeichen des (auch als Komponist tätig gewesenen) Franz Lehrndorfers und war in fast jedem Konzert als Finale zu bewundern. Der Organist präferierte dabei klare Cantus Firmi, die dem Kirchenbesucher vertraut sind, so dass der Hörer die Veränderungen und Weiterführungen der Melodie aktiv mitverfolgen konnte. Der harmonische Feinsinn und die für eine Improvisation unvorstellbar geschlossene Formgestaltung zeichnen eine unverkennbare Handschrift. Organisch vollzieht die Musik große Spannungsbögen nach und leitet kaum merklich von einem Abschnitt in den anderen über, wobei nicht nur mechanische Virtuosität und kontrapunktische Meisterschaft auch außerhalb der Fugenpassagen zu bewundern ist, sondern ebenso Musikantentum im reinsten Sinne des Wortes.
[Oliver Fraenzke, November 2019]
Zuerst erschienen in der Ausgabe 12/19-01/20 der “neuen musikzeitung” nmz. Mit freundlicher Genehmigung